"Versetzen wir das Bild von der 'Frau im Fenster' um ein paar Jahrtausende zurück in eine Zeit, die den abgespaltenen Begriff 'Sexualität' noch nicht gekannt hat: Die 'Frau im Fenster' war einst eine Hohepriesterin, die kultische Königin, die den Geliebten zur Heiligen Hochzeit aufforderte. Der Jüngling, mit dem die Priesterin schlief, empfing durch die Heilige Hochzeit göttliche Weihen. Er empfing sie stellvertretend für die ganze Natur, die er verkörperte: Liebe war das schöpferische Agens, die Kraftquelle, die im Wachsen der Pflanzen, der Fruchtbarkeit der Tiere und dem Ansteigen der Wasser in den Flußläufen wirkte. Die Liebe knüpfte das menschliche Dasein in die kosmische Ordnung ein und gewährleistete die Erhaltung des Lebens, den Sieg der geistigen, seelischen und physischen schöpferischen Kräfte über Untergang, Tod und Verwesung. Weit entfernt davon, 'nur' Fruchtbarkeitskult zu sein, traf der schöpferische Impuls alle Bereiche der menschlichen Existenz. Die ganzheitliche Erfahrung einer Liebe, der das abgespaltene Erlebnis von Sexualität unbekannt war, schuf einst die Voraussetzung für menschliche Integrität, für die seelische Gesundheit von Frauen und Männern.
Die 'Frau im Fenster' ist zur Verführerin des Mannes' geworden. Die Priesterin ist zur Dirne, zur Prostituierten verkommen. Zwischen Heiliger Hochzeit und Prostitution liegt die Geschichte eines Symbolwandels, die den dramatischen Verfall menschlicher Seelenkraft im Umgang mit Liebe und Tod beschreibt.
Elfenbeinschnitzereien, die eine 'Königin im Fenster' darstellen, waren im vorderen Orient und im östlichen Mittelmeerraum weit verbreitet. Bei den archäologischen Fundstücken handelt es sich meist um Bruchstücke, Teile jener Elfenbeinbetten, kultischer Möbelstücke, die zur Feier der Heiligen Hochzeit besonders kostbar ausgestattet waren. Die Priesterinnen der Aphrodite zeigten sich ebenso im Fenster, um nach dem Geliebten zu rufen (Hurwitz 1980, 42) wie die orientalischen Königinnen, die sich als Inkarnation der Großen Göttin auf dem Thron verstanden. In London befindet sich ein Relief aus dem Palast des Assurbanipol (669 - 627 v.u.Z) in Ninive, das den König auf dem geschmückten Prunkbett zeigt, neben ihm die Königin, umgeben von Dienern und Musikanten. Das Gemach für die Feier der Heiligen Hochzeit befand sich im Turm am Eingang der Tempelstadt oder im Tempel selbst (Thimme 1973, 22).
"Im Tempel des Gottes Nabu wurden Elfenbeinschnitzereien gefunden, die die Frau im Fenster darstellen, Schnitzereien, die offenbar zur Ausschmückung der kultischen Betten bevorzugt worden sind." (Thimme 1973, 23)
Der rituelle 'Lauf um die Mauer', der aus dem alten Ägypten überliefert ist (Sethe 1905, 133 f.), endete mit dem triumphalen Einzug des Königs durch das Stadttor, wo ihm die Königin, gehüllt in ihre priesterliche Kleidung und angetan mit kostbarem Kultschmuck, entgegensah. Ihr freundliches Entgegenkommen, ihr Gruß aus dem Fenster setzte ein Zeichen, hatte symbolischen Charakter. Die Wahl des Nachfolgers lag in der Hand der Königin, und mit ihrem Erscheinen im Fenster zur Begrüßung des Königs bestätigte sie ihre Entscheidung. Das Erscheinen der 'Königin im Fenster' gehörte zum matriarchalen Erwählungsritual. Es war eine Kultgebärde, die seit archaischen Zeiten vom Mann als Aufforderung zur Heiligen Hochzeit verstanden werden sollte."
Aus: Gerda Weiler, Der enteignete Mythos, Eine feministische Revision der Archetypenlehre C.G. Jungs und Erich Neumanns