Das zeigen exemplarisch die heroischen Taten der Berberkönigin Kahina, die Kraft genug besaß, die Invasion der Araber des 7. Jh.s, die rigoros das alte Ackerbausystem und die einheimische Kultur zerstörten, an den östlichen Hängen des Atlas eine Zeit lang aufzuhalten. Sie regierte, Königin und Prophetin in einem, ihr Volk 35 lang gerecht und gnädig, doch die Araber nannten sie "die Hexe". Denn 695 nach u.Z. schlug sie, verbündet mit anderen berberischen Bergstämmen vor der Küste, die arabische Armee in zwei Schlachten vernichtend. Drei Jahre später kamen die Araber wieder, doch sie brauchten noch vier weitere Jahre, sich Uneinigkeit und Spaltung unter den Berbern zunutze machend, um die Kahina Schritt für Schritt niederzuringen.
Mit ihrer Niederlage und ihrem Tod im Jahr 701 war der berberische Widerstand zerstört, und die Arabisierung der Atlas-Berber begann. Diese gingen jedoch in einen jahrhundertelangen, passiven Widerstand, unter absoluter Abschirmung nach außen, was den berberischen Bauern den Ruf der 'Unregierbarkeit' eingetragen hat. (Fußnote)
Dennoch wurden sie islamisiert und patriarchalisiert, was 1748 juristisch mit der strikten Vaterlinie und keinerlei Erbrecht für die Frauen vollendet war; heute sind sie strenge Anhänger des schiitischen Islam. Letzeres gilt jedoch nur für die Männer, die Mauern der Undurchdringlichkeit um ihre Dörfer und Frauen bauen. Dahinter sieht die Welt der Frauen anders aus: sie werden im Inneren des Hauses von den Männern sehr respektiert. Dort haben sie sämtliche Vorräte an Lebensmitteln in der Hand, welche die Männer ihnen von den Feldern bringen. Außerdem hüten sie die Kultur, denn im strengen Konservatismus bewahren sie die alte Sprache der Berber sowie die archaisch-religiösen Traditionen, die 'Magie'. Das reicht bis an den Rand der Gegenwart, denn erst 1939 setzte massive Landflucht ein, und ab 1950 löste sich die traditionelle Gesellschaft durch Auswanderung teilweise auf.
Dennoch ist durch die Forschung über ihren angestammten, allgemein-berberischen Glauben einiges bekannt. Darin sind alle Handlungen sakral und stehen in einem komplexen symbolischen Zusammenhang. Die Berber benötigen keine Priester, denn jede Frau ist die Priesterin des Familienkultes und jeder Mann der Priester der uralten Ackerbauriten, bei denen die Frauen ebenfalls aktiv mitwirken. In Afrika kommt diese Situation häufig vor, daß die Männer formal Mohammedaner wurden und die Frauen "Heidinnen" blieben, so ist es auch bei den Atlas-Berbern. Sie leben in ihrer eigenen "sakralen" Zeit, das ist die Zeit der Feste, wenn islamische Sozialregeln, die Liebe und Tod betreffen, begrenzt überschritten werden; die profane Zeit ist die der sozialen Verbote. In dieser "sakralen" Zeit werden die traditionellen Kulte von den Frauen aufrechterhalten und weitervermittelt'.
... Diese Riten der Atlas-Berber sind ein zusammenhängendes System von uralten Agrarzeremonien. Sie spiegeln noch - wenn auch vom Islam verdeckt - den vollständigen Mysterienfeste-Zyklus der einstigen matriarchalen Kulturen des Mittelmeerraumes, Vorderen Orients und Europas, welcher der Heiligen Hochzeit, Tod und Wiedergeburt gewidmet war. Gleichzeitig enthalten sie das Grundmuster matriarchaler Religionen: Die Große Göttin mit ihrem Heros. Sie erscheint hier in Gestalt der Erde, und er durchläuft z.B. als "Korngeist" die Stadien von Hochzeit, Tod und Wiederkehr. Überall ist die Religion aus der Jungsteinzeit längst untergegangen, doch die Berber haben sie im unzugänglichen Atlas wie auf einer Insel bis an den Rand der Gegenwart bewahrt. Insbesondere die Geheimnisse von Tod und Wiedergeburt liegen bei den Frauen, Geheimnisse, die sie vor Fremden wie vor den Männern hüten.
in: Heide Göttner-Abendroth, Das Matriarchat II, 2 - Stammesgesellschaften in Amerika, Indien, Afrika