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Medea ist das Urbild der abendländischen Hexe. Sie ist schön, sinnlich und verführerisch. Sie kann sich mit geheimnisvollen Salben alt und hässlich machen oder andere verzaubern. Sie hat die Sehergabe, kennt die Kräfte der Gifte und Wirkungen der Kräuter, sie ist die Barbarin aus einem fremden Land. Sie ist bewandert in der geheimen Kunst, sie kennt den Lauf der Gestirne und wird als Priesterin der Artemis tätig. Sie steht unter dem Schutz der Titanin und Erdgöttin Themis und Artemis, die von ihr als ‚Erhabene’ angerufen werden. Themis war nach ihrer Mutter Gaia die zweite Orakelgöttin von Delphi, bevor das Heiligtum von Apollon annektiert wurde. (Ovid, Metamorphosen I, 320 f). Themis, „die die Eide wahrt“, war als Tochter der Erdgöttin entweder mit Python, die ebenfalls von Gaia geboren worden war, identisch, oder eine Schwester des Drachens mit „giftigem Bauche“ (ebd. 459). Als Helferin und Schutzgöttin hat sich Medea die Göttin Hekate/Trivia erkoren, die in ihres „Herdes Grund“ wohnt (Euripides, Medea 399; Seneca, Medea 785). Es heißt bei Seneca, dass Prometheus einer ihrer Lehrer gewesen ist (Medea 820 ff.).
Medea kann auf einem Wagen mit Drachengespann durch die Lüfte fahren oder auf Schlangen durch den Äther reiten. Sie kann mit Räucherwerk beschwören, das Wunder der Verjüngung erwirken und Illusionen erschaffen. Sie kennt die Heilkunst genau wie den Schadenzauber. Was sie zum Urbild macht, ist vor allem ihr Kessel, in dem sie die Gebräue für ihre Zaubereien kocht. Seneca beschreibt in seinem Drama ‚Medea’ wie die Zauberin ihren Trunk bereitet. Eine Hauptingredienz sind Schlangen und ‚jegliches Gewürm’. Der Dichter nennt auch eine Reihe von – kaum identifizierbaren Zauberpflanzen aus Medeas Hexenbotanik:
„Nachdem sie Schlangen beschworen jeder Art, wirft sie in eins, was an verwunschenen Kräutern sprießt, was auf den Kuppen, die der ewige Schnee bedeckt, feucht von Prometheus’ Blut der Kaukasus erzeugt [Ferula communis] , der reiche Araber an seine Pfeile streicht [Aconitum spp.], was flinke Parther, Meder, bogenkampferprobt was edle Suebenfrauen unterm kalten Pol an Säften lesen im herkynischen Wald, was auch im nestbaufreudigen Lenz die Erde schafft und was in tiefen Winters Kälte, wenn der Wald den Schmuck schon abwarf, alles starr in Schnee und Eis, an Kräutern, todesschwanger blühend, grünt [Helleborus niger], was in gewundner Wurzel grauenvoller Saft [Mandragora] an giftiger Wirkung zeugt, all dies nimmt sie zur Hand. Haemoniens Athos steuert jenes Giftkraut bei, der riesige Pindus dies, auf des Pangǽum Höhn ließ unter blutiger Sichel dies das zarte Blatt.“ (Seneca, Medea 705 – 722)
Medea ist noch ganz die Schamanin, die sich gründlich in Botanik, Heilkunst und Magie (Zaubergesänge) auskennt. Sie ist noch nicht die ‚böse Hexe’ späterer Epochen. Sie setzt ihr Wissen und Können zum Schutz und Heil ihrer Freunde und Verbündeten, aber auch zum Schaden und Untergang ihrer Feinde ein. Wer sie fürchtet, der fürchtet sie zu Recht. Sie ist je nach Bedarf und Zweck Heilerin und Schadenszauberin zugleich. Sie hat – wenn sie will – den ‚bösen Blick’ (Apollonios IV, 1670 f.). Bei Euripides wird sie als ‚Löwin’ angesprochen (Medea 1316); möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Medea sich als gute Schamanin in eine Katze verwandeln konnte. Bei ihren Beschwörungen entblößt sie die Brüste, flicht sie lebende Schlangen ins Haar und hält je eine Schlange in jeder Hand (Seneca, Medea). Sie gleicht also ganz der minoischen Schlangengöttin von Kreta. Später wurde sie unsterblich und regierte als Hexenkönigin und Braut des Achilles die elysischen Gefilde (Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Rowohlt Reinbek 1984, S. 577) Mit ihrer Schönheit – Hesiod nannte sie die ‚schönfüßige Medea’ oder ‚Schönäugige’ -, Erotik und Zauberkunst hat sie schon die alten Dichter fasziniert, aber auch mit Angst und Schrecken erregt.
Euripides hat ihr eine ganze Tragödie gewidmet. Auch Ovid, der üppig einige von Medeas Taten in den Metamorphosen beschreibt, hat ebenfalls eine Tragödie namens Medea verfasst, von der allerdings nur ein Vers erhalten geblieben ist (Christine Binroth-Bank, Medea in den Metamorphosen Ovids, Peter Lang (Europäische Hochschulschriften, Bd. 62), Frankfurt/M. 1994 und Theodor Heinze (Hg.), P. Ovidius Naso – Der XXI. Heroidenbrief. Medea an Jason, Mit einer Beilage: Die Fragmente der Tragödoie Medea, Brill Leiden 1997). Euripides’ Dichtung wurde zur Vorlage für zahlreiche Medea-Bearbeitungen in der Weltliteratur. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden mehrere Opern, die sich der kolchischen Zauberin annahmen. Die Anziehungskraft der Medea strahlt bis heute. So ist sie etwa in der modernen Frauenliteratur zu einem Sujet geworden. Nicht ohne Grund fordert Ursula Haas einen Freispruch für Medea (1991), den Rolf Liebermann jüngst als Oper vertont hat (1995).
Medea, die blonde ‚Kolchierin’ mit ‚göttergleichem’ Haupt, stammt aus Kolchis, einem Land, das von ‚schwarzgesichtigen’ Barbaren bevölkert war. (Apollonios III, 828ff.). Ihr Großvater war Helios , der große Demiurg, der das orphische Welten-Ei ausbrütet (vgl. Robert von Ranke-Graves, Die Weiße Göttin: Sprache des Mythos, Rowohlt, Reinbek 1985); diese Abstammung wird bereits von Hesiod berichtet! Medea, Kirke und Hekate gehören zum Stamm des Helios/Sol : das heißt die Hexen sind Kinder der Sonne! Medea gebar nach Hesiod aus der Verbindung mit Jason, dem Argonauten, einen Sohn namens Medeios, „den in den Bergen Cheiron aufzog“ (Theogonie, 1001). Das heißt, der Nachfahre der zauberkundigen Mutter wurde von Geburt an von dem schamanischen Kentauren Cheiron, der auch den Herakles erzogen hatte, in der Heilkunst ausgebildet. „Nacht, Vertrauteste du der heimlichen Dinge; Ihr Sterne, die ihr der tragenden Glut nachfolgt mit der goldenen Luna; Du, Hekate mit dreifachem Kopf, du weißt, was jetzt anhebt: komm doch und hilf mir mit murmelndem Spruch und kunstvollem Zauber. Und du, Erde, du gibst den Hexen die mächtigen Kräuter. Lüftchen und Winde und Berge, ihr Flüsse all und ihr Teiche, Göttin der Haine, herbei! O helft mir , ihr Götter der Nächte.“ (Ovid, Metamorphosen VII, 192)
Aus: Claudia Müller-Ebeling/Christian Rätsch, Wolf-Dieter Storl, Hexenmedizin. Die Wiederentdeckung einer verbotenen Heilkunst – schamanische Traditionen in Europa, AT-Verlag Aarau/Schweiz, 1998