Sonntag, 1. Juni 2014




















Der Familienschamanismus der Frauen steht in engster Beziehung zum Ahnenkult, und es ist eine sehr aufschlußreiche Feststellung, daß der Schamanismus nicht aus der sog. 'Jagdmagie' der Männer entstanden ist - wie fraglos immer behauptet wird -, sondern aus dem von den Frauen ausgeübten, uralten familialen Totenkult, der aufs engste mit dem Wiedergeburtsglauben verknüpft ist. ( ) Dafür spricht, daß die Haupthandlung im archaischen Schamanismus eine lebende Verkörperung der gestorbenen Familienmitglieder durch junge Familienangehörige bei den Totenfesten ist, und zwar der Ahnin durch ihre Enkelin und des Ahnen (Mutterbruders) durch den Großneffen. Hier liegt die alte Idee zugrunde, daß die Großeltern in ihren Enkeln der gleichen Sippe wiederkehren. Bei Matrilinearität ist klarerweise die Enkelin wesentlich wichtiger, denn sie verkörpert die direkte Linie der Wiedergeburt.








... In dieser ursprünglichen Form des Schamanismus konnten nur Frauen wegen ihrer Wiedergebärfähigkeit Schamaninnen sein. Die Verhältnisse änderten sich beim Aufkommen der Patrilinearität, wo Söhne und Enkel sich in die Rolle des Schamanen drängten, die Frauen die Ausschließlichkeit der priesterlichen Funktion verloren und damit der alte Sinn des Schamanisierens als Suche nach der Ahnenseele verlorenging. Statt dessen suchte der Schamane nun nach der Seele eines Kranken in der Anderswelt, wo ein Dämon sie gefangenhielt. In dieser vom eigentlichen Sinn entfremdeten Form erscheint den Ethnologen das Phänomen des Schamanismus, und es ist verständlich, daß sie sich darauf keine befriedigende Erklärung machen können. Aber diese ist nicht so schwierig, wenn wir - wie einige andere Forscher - vom weiblichen Ursprung des Schamanismus ausgehen. Er spiegelt sich noch in der schönen Erzählung von der jungen Schamanin Nisan, die im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen als einzige einen Toten wieder zum Leben erwecken kann. ( )
Im patriarchalen China konnte der Wu-Kult nie ganz unterdrückt und nie ganz vollständig vereinnahmt werden, bis die Kaiser sich gezwungen sahen, eine Wu-Schamanin als repräsentative Person sogar am Hofe zuzulassen. ( )








Der Werdegang einer Schamanin birgt erhebliche Schwierigkeiten, sofern sie diese Würde nicht geerbt hat, was im heutigen Schamanismus Koreas sehr selten geworden ist. Die schamanische Berufung zeigt sich durch die sogenannte 'Schamanenkrankheit', die in jedem Lebensalter, meist aber in der Pubertät auftritt. Sie zeigt sich in Anzeichen wie Träumen und Visionen von Göttern, Hören der Stimmen von Geistern, intuitivem Äußern von Prophezeiungen, die dann eintreffen, und anderen mystischen Erfahrungen. Frauen mit diesen Anzeichen wurden in der patriarchalen Oberschicht Koreas getötet, im modernen Patriarchat Europas und Amerikas geraten sie in der Regel in die Mühlen der Psychiatrie.
Bei archaischen Völkern galt dieser Zustand dagegen als heilig, da sich in den Augen der Menschen darin eine Geistbesessenheit manifestierte. Aber längst nicht jede Person, die von dieser 'Krankheit' ergriffen wurde und wird, kann Schamanin werden, denn bevor es durch eine erfahrene Schamanin zu einer Initiationszeremonie kommt, wird erst geprüft, ob es sich bei diesen Anzeichen um echte Besessenheit oder nur um üble Tricks von Geistern handelt. In unserer Sprache übersetzt meint dies, daß erfahrene Schamaninnen eine Psychose sehr wohl von einem traumatischen Durchbruch echter spiritueller Begabung unterscheiden können.









Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat II,1. Stammesgesellschaften in Ostasien, Indonesien, Ozeanien






















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